Freitag 1. Februar 2008 - 20h
Postanarchismus
Jürgen Mümken, Referat und Diskussion

Seit einigen Jahren wird vor allem in den USA und Kanada unter dem Label „Postanarchismus“ über eine Aktualisierung anarchistischer Theorie und Praxis diskutiert. Aber auch z.B. in Brasilien oder in der Türkei findet eine Diskussion über Postanarchismus statt. Der postanarchistische Diskurs ist eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Transformationsprozesse der letzten Jahrzehnte. Die aktuelle Situation wird aber nicht nur in der Theorie reflektiert, sondern auch in der Praxis von der No-Border-Bewegung, People's Global Action, der Zapatistas, der GlobalisierungskritikerInnen und der Autonomen. Innerhalb der anarchistischen Debatten in Deutschland spielt der Begriff des Postanarchismus keine Rolle. Dies heißt aber nicht unbedingt, dass die Diskussionen, die anderswo unter Postanarchismus zusammengefasst werden, nicht auch hier stattfinden. Die verschiedenen theoretischen Auseinandersetzungen (poststrukturalistischer Anarchismus, postmoderner Anarchismus, etc.), die heute unter dem Begriff „Postanarchismus“ zusammengefasst werden, sind älter als der Begriff. Zwar benutzt schon Hakim Bey in seinem Buch „TAZ“ (original 1991) den Begriff „Postanarchismus“. Aber erst seit etwa 2001/02 werden die verschiedenen theoretischen Auseinandersetzungen mit postmodernen und poststrukturalistischen Theorien aus anarchistischer Perspektive unter Postanarchismus zusammengefasst. Im Internet habe ich die Formulierung „postanarchism is not an ‚ism’“ gefunden, ein „ismus“ der kein „ismus“ ist . Damit ist gemeint, dass der Postanarchismus keine Totalität darstellt, keine einheitliche Theorie, sondern wie der Poststrukturalismus (Foucault, Deleuze), der Postfeminismus (Butler) und der Postmarxismus (Chantal, Mouffe) eine ganzen Reihe von unterschiedlichen theoretischen Auseinandersetzungen umfasst. Das Menschen- und Weltbild des klassischen Anarchismus ist überholt. Das Verständnis von Herrschaft hat sich verändert und erweitert. Seit der Begründung des klassischen Anarchismus hat sich die Realität des Staates und des Kapitalismus verändert, um diese im Sinne des Anarchismus zu analysieren, ist es notwendig sich in der postmodernen und poststrukturalistischen Werkzeugskiste zu bedienen. Foucault, Deleuze, Derrida, Butler u.a. sind keine AnarchistInnen, trotzdem sind ihre theoretischen Arbeiten für eine Aktualisierung des Anarchismus von großer Bedeutung. Das Präfix „Post“ steht für eine Infragestellung und Verwerfung von einigen Grundannahmen des klassischen Anarchismus, nicht für die Aufgabe anarchistischer Ziele. Der Postanarchismus hält am Ziel einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft fest, nur so macht der Begriff einen Sinn. Ich möchte im folgenden einige postanarchistische Ansätze kurz skizzieren.

May: Poststrukturalistischer Anarchismus

Die meines Wissens erste Buchpublikation des Postanarchismus war „The Political Philosophy of Poststructuralist Anarchism“ (1994). In diesem Buch vertritt Todd May die Auffassung, dass der Marxismus (Marx bis Horkheimer) ebenso wie der „klassische Anarchismus“ (Godwin bis Bakunin) überholt seien und sucht in der Verknüpfung von Anarchismus und poststrukturalistischen Auffassungen von Macht und Herrschaft (Foucault und Lyotard) den Ausweg. Mit Bezug auf den positiven Machtbegriff bei Foucault versucht May den klassischen Anarchismus von der Grundannahme zu befreien, dass Macht grundsätzlich repressiv sei. Dazu ist es aber notwendig zwischen umkehrbaren Machtverhältnissen und starren Herrschaftszuständen zu unterscheiden. Oft wird leider nicht nur im Anarchismus nicht zwischen Macht und Herrschaft differenziert. Todd May bezieht sich ebenfalls auf den philosophischen Antihumanismus bei Foucault. Das führt May dazu, auch das Menschenbild des klassischen Anarchismus zurückzuweisen und die Annahme, dass die Praktiken vom Subjekt aus zu analysieren sind. Er setzt dem den poststrukturalistischen Praxis- und Machtbegriff entgegen, der Macht als soziale Praxis und somit allgegenwärtig auffasst. Gegen die kapitalistische Massengesellschaft hebt May die Elemente des Anarchismus von Fragmentierung, Verschiedenheit, Vielfalt von Gesellschaften hervor.

Newman: Postanarchismus

Der „lacansche Anarchismus“ von Saul Newman bezieht sich dagegen mehr auf Lacan und Derrida. Newman kritisiert die klassischen AnarchistInnenen, wie etwa Bakunin oder Kropotkin, da sie sich auf eine menschliche Natur und eine natürliche Ordnung bezögen, die durch die Existenz des Staates zerstört werden würde. Der „klassische Anarchismus“ steht für folgendes Menschenbild: Der Mensch ist von Natur aus gut, nur der Staat macht ihn schlecht. Für Newman ist dies ein manichäisches Weltbild, welches lediglich die Umkehrung von Thomas Hobbes’ „Leviathan“ darstellt. Nur, dass nach Hobbes der „gute“ Staat die „böse“ menschliche Natur unterwirft. In seinem Buch „From Bakunin to Lacan. Anti-Authoritarianism and the Dislocation of Power” (2001) beginnt Newman mit Nietzsche und macht dann eine Reise durch die verschiedensten Ansätze der politischen Philosophie. Er bezieht sich auf den „Einzigen“ von Stirner, die Genealogie der Macht bei Foucault, die Kriegsmaschine bei Deleuze und Guattari, auf die Dekonstruktion der Autorität bei Derrida und auf Lacan. Newman hat bei dem Postmarxisten Ernesto Laclau studiert, der zusammen mit Chantal Mouffe wohl zu den wichtigsten Theoretikern des Postmarxismus gehört. So ist es auch nicht verwunderlich, dass er am Ende seines Buches für eine Politik des Postanarchismus eintritt. Laclau und Mouffe gehen davon aus, dass radikale Politik nicht länger vom Proletariat oder vom Klassenkampf dominiert wird. Die Kämpfe der Neuen Sozialen Bewegungen sprengen die marxistische Kategorie des Klassenkampfes.

Postmoderner Anarchismus

Ein Jahr später erscheint „Postmodern Anarchism“ von Lewis Call, der sich neben Nietzsche und Foucault, Deleuze, Lacan auch auf Baudrillard und die Cyberpunkern Gibson und Sterling bezieht. So besteht für Call die „postmoderne Matrix“ auf Nietzsche und seiner „Genealogie der Moral“ und dessen Radikalisierung durch Foucault und Deleuze; auf Lacan und den „lacanischen Feminismus“ von Butler und Irigaray; auf Mauss/Bataille und Baudrillard. Call sieht eine anarchistische Politik in der Arbeit von Nietzsche. Er bezieht sich dabei auf die Kritik des cartesianischen Konzepts des Subjekts. Bei Nietzsche finden wir eine Anarchie des Subjekts, die eine radikale Form der Anarchie ermöglicht: die Anarchie des Werdens. Das Werden der Anarchie hat keinen Zielzustand, mündet nicht in einem „Sein“. Die Anarchie ist kein Endzustand einer Entwicklung, keine statische Form der Gesellschaft, sondern ein permanentes Werden. Eine revolutionäre Möglichkeit des Werdens finden wir in den „Tausend Plateaus“ von Deleuze und Guattari. Für Call unterscheidet sich der postmoderne Anarchismus von Foucault vom modernen Anarchismus von Bakunin oder Kropotkin. Es handelt sich dabei für Call um einen neuen Anarchismus, der auf einem höheren theoretischen Niveau operiert. Foucaults postmoderner Anarchismus beginnt nicht mit der Kritik des Staates, sondern mit dem humanistischen Subjekt, welches den westlichen Diskurs der Post-Aufklärung beherrscht. Die postmodern anarchistische Praxis wird für Call im Mai 1968 geboren. Der Mai 1968 begann mit den StudentInnenprotesten auf dem Campus der Universität von Nantarre, wo zu diesem Zeitpunkt Baudrillard lehrte. Die Ereignisse stärkten Baudrillards antimarxistischen Anarchismus. Die revolutionäre Theorie und Praxis des Mai 1968 war für Call durch Guy Debord und die Situationistische Internationale dominiert, eine radikale Bewegung mit der sich Baudrillard verbunden fühlte. Baudrillards Politik der Simulation ist für Call eine Politik des heutigen postmodernen Anarchismus. Der postmoderne Anarchismus von Call kann auch als nietzscheanischer Anarchismus bezeichnet werden.

Literatur

- Bey, Hakim: TAZ - Die Temporäre Autonome Zone, Berlin 1994
- Call Lewis: Postmodern Anarchism, Lanham, Lexington Books 2002
- Deleuze Gilles: Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1991
- Deleuze Gilles / Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin 1992
- Foucault, Michel: Das Subjekt und die Macht. In Dreyfus, Hubert L. /Rabinow, Paul (Hrsg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1994
- Laclau Ernesto / Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991
- May Todd: The Political Philosophy of Poststrukturalist Anarchism, The Pennsylvania State University Press, University Park 1994 (türkische Übersetzung 2000)
- Newman, Saul: From Bakunin to Lacan. Anti-Authoritarianism and the Dislocation of Power, Lanham, Lexington Books 2001


       
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