Sonntag 14. Februar 2010 | 15h | Widder
Arbeiterwiderstand gegen die Pläne des Kapitals
Rainer Thomann, Referat und Diskussion

Am 11. März 2009 will der Reifenkonzern CONTINENTAL den Arbeitern erklären, dass ihr Werk im nordfranzösischen Clairoix geschlossen wird. Die Versammlung endet im Tumult. Von einem rohen Ei am Kopf getroffen, verlässt der Direktor fluchtartig den Ort. Das ist der Auftakt zu einer breiten Protestbewegung gegen die Schliessung des Werks und gegen die „patron voyous“ von Continental, die „Unternehmer Halunken“, wie sie fortan genannt werden. Warum sind die Contis derart wütend, dass sie nicht nur zwei Managerpuppen an einem Dachbalken aufhängen und mit Eiern und Schuhen bewerfen, sondern in den folgenden Monaten gleich ganze Lieferwagen an teuersten Reifen, die sie zuvor selber produziert haben, öffentlich verbrennen?

Als der Fabrikbesitzer den 50 ArbeiterInnen der INNSE in Mailand per Telegramm mitteilt, dass ab dem 31. Mai 2008 die Produktion per sofort eingestellt werde, besetzen sie noch in der gleichen Nacht den Betrieb. Drei Tage später nehmen sie die Produktion wieder auf. In den folgenden dreieinhalb Monaten beweisen die Arbeiter, dass die INNSE auch ohne Patron gut funktioniert. Zusätzlich zum Zweischichtbetrieb wird das Werk nachts und an den Wochenenden und Feiertagen bewacht. Auch als am 17. September die Polizei die Arbeiter mit einem Räumungsbefehl aus dem Betrieb holt, haben sie nicht die geringste Absicht aufzugeben. In einem ehemaligen Pförtnerhäuschen richten sie ihr Basislager ein und führen von dort aus den Kampf zur Wiederaufnahme der Produktion. Mit immer neuen Initiativen und mit tatkräftiger Unterstützung von Arbeitern anderer Betriebe, von Studenten und Jugendlichen autonomer Zentren gelingt es den ArbeiterInnen der INNSE, die Demontage und den Abtransport der Maschinen zu verhindern. Inzwischen hat die INNSE einen neuen Besitzer, und seit dem 12. Oktober ist die Produktion wieder aufgenommen worden. Wie ist es möglich, dass es 50 ArbeiterInnen gelungen ist, den Fabrikbesitzer, der die ganze Staatsmacht auf seiner Seite hatte, zu bezwingen?

[Bei INNSE in Mailand - ebenso wie in den Officine von Bellinzona - hat der geschlossene Arbeiterwiderstand die Betriebsschliessung verhindern können. Bei Continental in Clairoix war dies trotz einer gut organisierten und von der Bevölkerung getragenen Bewegung und trotz militanter Aktionsformen nicht möglich. „Continental asozial, diese Halunken müssen bezahlen!“, stand auf dem Spruchband, das die Hallenwand zierte, vor der die täglichen Arbeitervollversammlungen stattfanden. Zumindest dieses Ziel haben die Contis erreicht: Der Reifenmulti muss unüblich hohe Abfindungen zahlen, so dass alle mit einer Summe zwischen 50'000 und 100'000 Euro in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Ist dieses Resultat vielleicht gar als besser zu werten als die momentane Erhaltung des Arbeitsplatzes in einer wirtschaftlich unsicheren Zeit? Oder hätten die Arbeiter in Clairoix stattdessen versuchen sollen, die Abfindungssumme weiter in die Höhe zu treiben, um sie schliesslich - wie ihre Kollegen in Mexiko - in Anteilscheine an einem selbstverwalteten Betrieb umzuwandeln? Aus welchen Gründen ist nicht dieser Weg gewählt worden?]

Rainer Thomann, Gewerkschaftsaktivist, hat mit den Contis von Clairoix gesprochen und ihren Widerstand gegen den Reifenmulti nachgezeichnet. Er hat auch den langen Kampf der ArbeiterInnen bei INNSE Mailand gegen die Schliessung ihrer Fabrik fast von Beginn an aktiv unterstützt. Er kennt deshalb die Hintergründe dieses beispielhaften Arbeiterwiderstands, der in Italien vom August 2009 an eine Welle von Betriebsbesetzungen ausgelöst hat.

       
Libertäre Aktion Winterthur * www.libertaere-aktion.ch * law[at]arachnia[punkt]ch